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Neue Quellen zeigen, warum Deutsche sich der NSDAP anschlossen

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Es gibt unzählige Theorien darüber, warum sich Deutsche der NSDAP anschlossen, aber es gab nur relativ wenig empirische Untersuchungen dazu. Jürgen W. Falter, der weltweit als der führende Forscher zu den Wählern und Mitgliedern der NSDAP gilt (er hat zwei Standardwerke mit zusammen über 1000 Seiten dazu geschrieben) hat jetzt historische Quellen erschlossen, die Antworten auf diese Fragen geben.

Insgesamt sind es 10.000 Textseiten – einige stammen aus der Zeit des Dritten Reiches, andere aus der Zeit danach – die Aufschluss geben, was Menschen dazu bewog, sich Hitler und seiner Bewegung anzuschließen. Falter und sein Team haben diese Quellen mit modernen, computergestützten Methoden, systematisch ausgewertet.

Dabei gibt es einige Befunde, die manche Leser überraschen werden. Die NSDAP war eine antisemitische Partei, aber Antisemitismus spielte für 60 Prozent derjenigen, die sich ihr anschlossen, keine Rolle – zumindest lässt sich dies aus den Quellen nicht nachweisen. Auch für die 40 Prozent, aus deren Äußerungen man entnehmen kann, dass sie antisemitische Einstellungen teilten, war dies nicht unbedingt das zentrale Beitrittsmotiv. Mich hat dies nicht gewundert, denn meine eigenen Untersuchungen über Hitler hatten gezeigt, dass der Antisemitismus zwar in seinen Reden Anfang der 20er-Jahre eine wichtige Rolle spielte, jedoch in der Zeit seines Aufstieges (1929 – 1932) als Motiv in den Reden kaum noch vorkam. Hitler wusste, dass er mit Judenfeindschaft die Masse der Deutschen nicht gewinnen konnte, und Falter zeigt nun, „dass der Antisemitismus nur für eine Minderheit der NSDAP-Mitgliede ein vorrangiges Motiv für den Parteieintritt darstellte“.

Die weitaus meisten der insgesamt 10 Millionen Menschen, die sich zwischen 1919 und 1945 der NSDAP anschlossen, taten dies nach 1933. Viele davon traten eher aus Opportunismus und um eigener Vorteile willen als aus weltanschaulichen Gründen der Partei bei. Das war anders bei denen, die sich vor 1933 der Partei anschlossen. Hier spielten Nationalismus und Antimarxismus eine sehr wichtige Rolle, aber auch sozialistische Überzeugungen.

Attraktiv war für viele Menschen die Idee der „Volksgemeinschaft“, eine Idee, die sich häufig mit Antikapitalismus verband. Das trifft übrigens besonders für die Antisemiten unter den NSDAP-Mitgliedern vor, die häufig auch sozialistische Ideen teilten. „Erstaunlich mag auch erscheinen, dass die Antisemiten unter den von uns untersuchten Parteimitgliedern häufig sozialistisch eingestellt waren“, so Falter. Der Ursprung der Verbindung von „Volksgemeinschaft“, Sozialismus und Judenfeindschaft sei im Antikapitalismus zu suchen, wie Hannah Weber in ihrem lesenswerten Beitrag über „Antisemitismus als Beitrittsmotiv“ schreibt.

Interessant ist, dass nicht wenige Parteimitglieder aus „sozialdemokratisch oder marxistisch orientierten Elternhäusern“ stammten, wie die Analyse belegt. Auch das Erlebnis des Ersten Weltkrieges prägte viele Nationalsozialisten. „Hitler und die NSDAP“, so Falter, „nutzten mit ihrem Versprechen einer die Klassengegensätze überwindenden Volksgemeinschaft und der schon im Namen der Partei aufscheinenden Verbindung von Nationalismus und Sozialismus erfolgreich die aus dem Fronterlebnis und der Erfahrung des Schützengrabensozialismus gewachsene Sehnsucht vieler nach nationaler Harmonie und Einigkeit propagandistisch aus.“

Von den Motiven, die ehemalige Parteimitglieder nach 1945 nannten, war der Sozialismus sogar „die am häufigsten genannte ideologische Einstellung“. Dies mag auch daran liegen, dass es in den Entnazifizierungsverfahren, deren Berichte Falter und sein Forschungsteam mit herangezogen haben, um Selbstrechtfertigung ging – und Sozialismus war in der Nachkriegszeit zunächst nicht verpönt.

Falter zeigt jedoch vor allem: Das „eine“ alles dominierende Motiv, das erklärt, warum sich jemand der NSDAP anschloss, gab es nicht. Es gab eine Vielzahl sehr unterschiedlicher Motive und Wege zur NSDAP. Das große Verdienst dieser Studie ist es, dass über diese Motive und Wege nicht spekuliert wird, wie dies häufig der Fall ist, sondern dass die Berichte der Zeitzeugen mit modernen wissenschaftlichen Methoden der quantitativen Textanalyse systematisch ausgewertet werden. Diese Quellennähe schützt vor allzu einfachen monokausalen Erklärungen.


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